Queer ist umfassender, flexibler und inklusiver
Roigs Identität passte von Anfang an in keine enge Schublade. Hinzu kommen die unterschiedlichen Hautfarben-Hierarchien: „Menschen, die wie ich einen Schwarzen und einen weißen Elternteil haben, sind in Deutschland Schwarz. In Frankreich nicht. Dort gibt es einen Unterschied zwischen Schwarz und Métis; und Métis-Leute haben in der Gesellschaft viele Privilegien, manchmal werden sie auch fetischisiert.“ Fehlt noch das Schubfach „sexuelle Identität“. „Es gab Momente in meinem Leben, wo ich mich als lesbisch, bisexuell oder hetero hätte bezeichnen können, aber das negierte jedes Mal einen Teil von mir. Deswegen mag ich queer, denn es ist umfassender, flexibler und inklusiver. Und es zerbricht die binäre Geschlechtsordnung. Für mich passt es sowohl politisch als auch persönlich am besten.“
Als Emilia Roig dann ein treffendes Wort kennenlernte, das ihre vielfältigen Erfahrungen und Identitätsanteile zusammenfasste und deren Verbundenheit zuließ, war das wie eine kleine Erleuchtung. „Intersektionalität hat meine Individualität ermöglicht“, sagt sie. Der 1989 von der US-amerikanischen Juristin Kimberlé Crenshaw geprägte
Begriff ist für Roig zur Berufung geworden. Doch der Weg dorthin führte zunächst über verschiedene Lebensstationen.
Nach einem Jura- und Staatswissenschaftsstudium in Lyon und
Berlin begleitete Emilia Roig Projekte für Kinder- und Frauenrechte in
Ecuador, Tansania, Kenia, Uganda und Kambodscha. So unterschiedlich die Programme auch waren, ob nun bei der UN, bei der riesigen Entwicklungsorganisation Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) oder bei lokalen Nicht-Regierungsorganisationen: Überall zeigten sich ähnliche Abhängigkeiten und Machtverhältnisse zwischen Einheimischen und den meist westlichen Geldgebern sowie bei der Projektleitung – koloniale Hierarchien und Rassismus auch hier. „Ich hatte einen enormen Drang, etwas zu bewegen, mich zu finden und auszuprobieren. Aber meine Toleranzschwelle für Situationen und Jobs, die mich nicht erfüllen, hinter deren politischer Botschaft ich nicht zu 100 Prozent stehe, ist sehr gering. In der sogenannten Entwicklungszusammenarbeit habe ich zwar viel gelernt, trotzdem war der Wunsch, das System von innen zu ändern, zu naiv.“ Emilia Roig ging zurück nach Berlin, wo sie seit 2005 lebt. Sie machte einen Master in
„Public Policy“, um politische Prozesse noch besser verstehen zu
können, und schrieb ihre Doktorarbeit. Ende 2014, genau eine Woche vor der Geburt ihres Sohnes Tidiane, schloss sie die Arbeit ab.
„Es geht um Zerstörung – im positiven Sinn“
Doch auch kommende Jobs brachten nicht die Erfüllung. Bis irgendwann der Gedanke wuchs, ein eigenes Projekt zu gründen. Eins, das in Deutschland und Europa Gleichstellung und Antidiskriminierung voranbringt. Eins, das intersektional ist und auf politischer Ebene etwas bewegt. „Ich ging gerade durch eine schwierige Phase in meinem Leben und dachte erst, ich hätte keine Energie für eine solche Vision. Aber sie wurde immer stärker“, sagt Emilia Roig. „Dann habe ich zufällig Kimberlé Crenshaw in Paris getroffen. Obwohl: Ich glaube nicht an Zufälle. Und da habe ich sie spontan gefragt, ob sie Präsidentin einer solchen Organisation werden würde. Sie sagte: ‚Aber sicher, Emilia!‘ Da war mir klar, ich muss es machen.“
Sechs Monate später feierte das Center for Intersectional Justice (CIJ) in Berlin die Eröffnung. Seit 2017 ermöglicht es unter anderem Beratungen und Workshops für Organisationen und Firmen, die gesellschaftliche Veränderungen anstoßen sollen. „Es geht um
Zerstörung – im positiven Sinn – von Strukturen, die Ungleichheit
erzeugen. Das ist auf jeden Fall subversiv“, so Roig. Denn wer Intersektionalität ernst nimmt, rüttelt an alten Privilegien und ihren großen
Machtapparaten: Rassismus, Kapitalismus, Patriarchat. Weil die
bislang Ausgegrenzten plötzlich mitgedacht werden – und die gleichen
Rechte bekommen. Es ist die größtmögliche Vision für eine faire,
diverse Gesellschaft. Mit diesem Vorhaben ist Emilia Roig ganz bei sich angekommen. Auch wenn ihr Leben nach wie vor turbulent ist: In ihrer Wohnung liegt ein gewaltiger Bücherberg, denn Roig ist Teil der
Jury vom Deutschen Sachbuchpreis. Sie unterrichtet an einer privaten
Hochschule, schreibt ein Buch und dreht an einer Doku für arte. Doch in Zukunft will sie weniger umherreisen, bei all der aktivistischen
Arbeit die Spiritualität nicht vergessen.
Und wie behält sie in Zeiten von Rechtsextremismus, Nationalismus und globaler Klimakrise ihre Zuversicht? Werden wir tatsächlich
eine bessere Welt erleben? „Ich glaube, dass die Veränderung bereits stattfindet“, sagt Emilia Roig und zitiert sinngemäß den Autor
Deepak Chopra: „Vor jeder großen, guten Entwicklung gibt es Chaos und
Widerstand. Wir stecken mittendrin.“
Center for Intersectional Justice