Erschienen in der L-MAG-Ausgabe 6-2024 (Nov./ Dez.)
Die Luft war drückend, die Luft war grausam.
Ich wiegte die Perle, ich reizte sie, ich holte sie aus den Tiefen ihres Verfalls,
ich schenkte ihr Vertrauen. (…)
Das Fleisch polierte meinen Finger und mein Finger polierte Isabelles Fleisch.
Die Bewegung geschah ohne uns, unsere Finger träumten.
[aus: „Thérèse und Isabelle“]
Von Melanie Götz
Leidenschaft und Hingabe, wie sie aus Violette Leducs literarischer Hymne in „Thérèse und Isabelle“ (siehe oben) an die lesbische Erotik sprechen, wirken gegenwärtig, hautnah.
Kein Wunder, konnte die 1907 im französischen Arras geborene Autorin dieser Zeilen doch aus dem Schatz ihrer Jugenderfahrungen schöpfen. Als Internatsschülerin in der nordfranzösischen Provinz machte die junge Violette lesbische Erfahrungen – mit einer Mitschülerin sowie einer jungen Musiklehrerin, Denise Hertgès. Nachdem das Verhältnis mit Hertgès aufgeflogen und sie beide vom Internat suspendiert worden waren, sollte ihre Beziehung noch einige Jahre überdauern.
1954, als (männliche) Homosexualität in Frankreich zwar nicht mehr verboten, aber gesellschaftlich geächtet war, veröffentlichte die Schriftstellerin mit „Ravages“ (deutsch: Verwüstungen) einen autobiographisch inspirierten, existenzialistischen Roman. Darin verarbeitete Leduc schonungslos offen ihre eigenen, tabubehafteten Themen – das prekäre Aufwachsen als außerehelicher „Bastard“, aktive weibliche Sexualität, Abtreibung sowie Lesbensex.
Lesbischer Liebesroman war dem Verlag zu „obszön“
Die Geschichte von „Thérèse und Isabelle“ stellt den ersten Teil des Romans dar, der von der Jugendliebe zweier Internatsschülerinnen erzählt – und komplett der Streichung zum Opfer fiel. Zu skandalträchtig schienen dem Verlagslektorat, das „Ärger mit der Justiz“ fürchtete, Stellen „von gewaltiger und detaillierter Obszönität“ wie die eingangs zitierte oder solche, die von Oralsex handelten: „Ich werde tun, was du möchtest, sagte ich. Ich leckte. Isabelle, die auf dem Kissen kniete, zitterte wie ich. (…) Mein Schweiß, mein Speichel, die Enge, meine Lage als Galeerensklavin, seit ich sie liebte ohne Atempause zur Lust verdammt – das alles betörte mich.“
Eine zweite, zensierte Variante des Romanauftaktes erschien 1966 im selben Verlag. Es sollte ein gutes halbes Jahrhundert vergehen, bis im Jahr 2000 die originale, unzensierte Version von „Thérèse und Isabelle“ zunächst in Frankreich und 2021 die deutsche Übersetzung im Berliner Aufbau Verlag erschien.