Letztes Jahr hast du „I‘m Not Broken“ veröffentlicht, eine zweiteilige Dokumentation über dein Konzert in einem Gefängnis, und das dazugehörige Album. Wie kam es dazu?
Ich bin in Leavenworth, Kansas, aufgewachsen, einer Stadt, die bekannt ist für ihre Haftanstalt. Und als ich noch sehr klein war, vielleicht acht Jahre alt, kam Johnny Cash und spielte dort. Wir haben ihn in der Stadt nicht zu Gesicht bekommen, er traf nur die Gefangenen. Daher dachte ich, dass Gefängnisse sozusagen von Natur aus Orte für Entertainment wären. Später bin ich selbst dort aufgetreten und habe gesehen, wie dankbar die Gefangenen sind und welche Auswirkungen Musik für sie haben kann. Das wollte ich schon lange wiederholen. 2023 bekamen wir schließlich eine Drehgenehmigung. Mit einigen der Frauen habe ich über ein Jahr hinweg Briefe geschrieben, um eine Verbindung aufzubauen, bevor ich sie persönlich kennenlernte. Das hat mir eine Vorstellung davon vermittelt, wie unsere Gesellschaft über Verbrechen und Strafe denkt und weshalb Rehabilitation als Konzept so notwendig ist. Neunzig Prozent der dort inhaftierten Frauen haben in ihrer Kindheit ein Trauma erlitten, das sie verdrängen mussten. So kamen sie zum Drogenkonsum, was wiederum in die Kriminalität führte. Ein Teufelskreis. Jetzt sind diese Frauen von den Drogen weg und versuchen, ihr Leben in den Griff zu bekommen. Dafür fehlt ihnen das Zuhause, ihr familiäres Umfeld. Ich würde mir mehr Verständnis für frühkindliche Traumata wünschen und bessere Hilfen, bevor Menschen kriminell werden.
Deine Memoiren, „Talking to My Angels“, sind noch nicht auf Deutsch erschienen …
Das soll aber bald geschehen. Wir arbeiten daran.
Was hat dich dazu inspiriert, zwanzig Jahre nach deiner ersten Autobiografie „Offen und ehrlich“?
Der Tod meines Sohnes Beckett zwang mich zur Auseinandersetzung mit mir selbst, um daran zu wachsen und das Geschehene besser zu verstehen. Ich habe immer noch überall im Haus Bilder von ihm. Er ist immer noch bei mir. Er ist nur nicht mehr körperlich anwesend. Ihm habe ich das Buch gewidmet.
Hat der Song „Here Comes the Pain“ auch mit dieser Erfahrung zu tun?
Ich bemerkte seine Probleme mit Drogen, Heroin, Schmerzmitteln und Fentanyl, recht früh. Davon handelt der Song.
In den Anfangsjahren deiner Karriere hast du viel in Lesbenbars gespielt. Die sind nun am Verschwinden, in den USA gibt es nur noch eine Handvoll davon. Was ist da passiert?
Vor dreißig Jahren waren die Bars, abgesehen von politischen Treffen, der einzige Ort, an dem man sich sicher sein konnte, Lesben zu treffen. Damals haben wir uns alle so kennengelernt. Alkohol war ein großes Problem in der queeren Community. Ich habe fünf Abende die Woche in Bars gespielt und zum Glück nicht getrunken, aber es war Teil der Kultur. Als das Internet aufkam, wurde uns klar, dass wir nicht mehr jeden Abend trinken gehen müssen und wir haben bessere Orte gefunden, an denen wir uns treffen können, zum Beispiel Cafés statt Bars. Dass die Trinkkultur nachgelassen hat, ist wahrscheinlich gut so, aber leider haben wir damit auch diese liebevoll-verrückten Plätze verloren, die wir einst hatten.
Dein Privatleben wurde öffentlich, als du dich auf dem Ball zur Amtseinführung von Bill Clinton geoutet hast. Wie erinnerst du diesen Moment?
Ich war von diesen großen Stars unserer Community aus Hollywood umgeben. Wir steckten mitten in der Aidskrise, sahen unsere Freund:innen sterben und niemand tat etwas dagegen. Wir erkannten, wie machtvoll es ist, sich zu outen und Haltung zu zeigen. Ich wollte meine Bekanntheit so gut wie möglich nutzen, um zu sagen: „Hey, du hörst zu Hause meine Musik, und ich bin queer. Lass uns das als normalen Teil der Gesellschaft verstehen.“ Sich politisch zu engagieren und zu helfen, dass Clinton und Gore gewählt werden, und anschließend den Erfolg zu sehen, erleichterte es mir, mich zu outen und diese Reise zu beginnen.
Es gibt wohl kaum einen stärkeren Kontrast als den zwischen Clinton und Trump. Hast du Hoffnung, dass sich in den kommenden vier Jahren etwas positiv ändern könnte?
Es ist, als ob die Verrückten den Schlüssel zum Irrenhaus bekommen hätten. Das lässt sich nicht ändern, wir können nur uns selbst verändern. Wir können lernen, wir können wachsen, wir können stärker werden, und wir können mehr Einheit fordern. Wir müssen da offensichtlich erstmal durch und das Beste draus machen. Also, auf geht’s.
Meine letzte Frage bezieht sich noch mal auf die Tournee. Hast du eine besondere Beziehung zu Deutschland?
Neben Kanada war Deutschland das erste Land, in dem ich richtig Fans hatte und Erfolge feierte. Gerade gestern noch habe ich meinen Freund:innen erzählt, wie ich im November 1989 in Berlin war und den Fall der Mauer direkt miterlebt habe. Ich habe jedes Mal wieder Tränen in den Augen, wenn ich davon spreche. Meinen Freund:innen sagte ich: „Seht mal, das hat mir damals Hoffnung gegeben, dass Menschen etwas ändern, etwas bewegen können. Sie können buchstäblich Mauern einreißen!“ Dass ich immer hoffnungsvoll für alles und jeden bin, geht darauf zurück. Und deshalb fühle ich mich Deutschland so besonders verbunden.
Von 16. Juni bis 12. Juli tourt Melissa Etheridge durch Europa, alle Orte und Termine auf melissaetheridge.com.